„Du musst damit aufhören! Für dich und für unser Kind in deinem Bauch.“ So oder so ähnlich sagte es mir mein Partner wieder und wieder. Wir waren gerade zusammen gekommen, ich wurde quasi direkt schwanger. Ich musste aufhören meinen Körper zu hassen, ja mich selbst zu hassen. Denn damals erbrach ich nach fast jedem Essen. Ich litt an dieser elenden Krankheit, die Bulimie heißt. Ich aß nur, um es danach wieder auszukotzen. Vielleicht fragst du dich, wie das geht und das würde doch auffallen? Nein, das tut es nicht. Wer so krank ist, findet Mittel und Wege.

Ich halte eine Gabel mit einem Stück Mandarine. Mein Mund ist mit Klebeband verklebt, das die Aufschrift Stop eating trägt.

Die Essstörung hatte mich viele Jahre verfolgt, begonnen hat es als ich ungefähr 14 Jahre alt. Doch auf die Ursachen möchte ich hier nicht näher eingehen. Es war ein ständiges auf und ab. Jahre mit Selbsthass und Selbstzerstörung. Jahre des Hungerns und des Fressens. Jahre mit übertriebenem Sport und Abführmittel. Warum ich da jetzt darüber schreibe? Nun, es fällt mir nicht leicht, aber ich glaube, dass ich nicht alleine bin. Ich glaube, dass da draußen so viele Menschen sind, denen es ähnlich geht. Ich hatte in meinem Leben so viele Situationen erlebt, die ich nicht kontrollieren konnte. Da wollte ich wenigstens eines kontrollieren: mein Gewicht. Ich lebte für die Zahl auf der Waage und für jede Kalorie, die ich nicht zu mir nahm oder wenn ich es tat, sie wieder erbrach.

Es war wie eine Sucht, die mich fest in ihren Händen hält und ich merkte nicht, wie ich immer mehr die Kontrolle verlor, während ich doch nur eines wollte: einmal die Kontrolle haben! Das ist wohl schief gelaufen. Ich wollte mir das lange nicht eingestehen. Ich wollte nicht zugeben, dass ich ein Problem hatte, obwohl es mir tief in mir drin wohl bewusst war. Ich wusste, ich sollte mir Hilfe suchen, aber dafür war ich zu eitel. Bis ich nicht mehr konnte. Und meine Eltern nicht mehr konnten. Ich sprach in der Therapie darüber, doch machte ich mal Fortschritte, ging es genauso schnell wieder zurück. Bei mir gab es nur ganz oder gar nicht.

Ein schwarz-weiß Foto meines Schwangerschaftbauch mit der Aufschrift Mama und der Bauch meines Partners mit der Aufschrift Papa.

Und dann wurde ich schwanger. Was sollte ich tun? Ich wollte dieses Kind, ich liebte und liebe dieses Kind in mir. Doch die Sucht war stark. So musste ich jeden Tag kämpfen. Die Übelkeit in der ersten Monaten der Schwangerschaft machte es mir nicht leicht. Aber ich hatte mich entschieden: Ich würde mir nie wieder den Finger in der Hals stecken! Ich wollte kämpfen gegen dieses Monster in mir, dass mir einredete, dass ich das tun müsse. Immer wenn mir schlecht war, hätte ich mir am liebsten den Finger in den Hals gesteckt. Aber ich tat es bis heute tatsächlich nie wieder. Auch das Zunehmen in der Schwangerschaft war eine Qual. Und doch liebte ich diesen wachsenden Bauch mit meinem, mit unserem Baby, darin. Ich war glücklich einen Mann an meiner Seite zu haben, der mir zuhörte. Er konnte vieles von dem, was ich erzählte nicht nachvollziehen, so abstrakt klang es. Aber es ist auch nicht einfach zu verstehen... Wie kann jemand sich so hassen, dass er seinen Körper zerstört auf der Suche nach Perfektion? Auf der Suche nach einer Perfektion, die es nicht gibt, das ist mir mittlerweile klar geworden.

Aber alleine hätte ich das nicht geschafft. Ich hatte und habe immer noch einen Partner, der mir zugehört hat. Und das, obwohl er einiges davon nicht verstehen und nicht nachvollziehen konnte. Er musste mir immer wieder sagen, dass alles gut ist, dass ich schön bin, wie ich bin, auch wenn ich zunehme. Er sagte mir, dass er mich jeden Tag mehr liebe, der wachsende Bauch mache mich mit jedem Tag schöner. Je öfter ich das hörte, desto mehr glaubte ich es selbst. Ich hatte immer mal wieder noch das Bedürfnis zu erbrechen, wenn ich meiner Meinung nach zu viel gegessen hatte. Aber ich tat es nicht. Ich wollte nicht. Ich wollte stärker sein, als diese elende Sucht. Ich wollte den Körper akzeptieren, ja irgendwann vielleicht sogar lieben, denn er ließ dieses Leben in mir wachsen.

Mittlerweile mache ich mir keine Gedanken mehr über's Essen. Ich esse worauf ich Lust habe und das ist nicht unbedingt nur Gemüse oder Obst. Nein, ich liebe Chips, Eis und Schokolade. Wenn ich Menschen mit Essstörungen sehe, macht es mich manchmal wütend, manchmal traurig. Ich würde ihnen gerne sagen, was sie sich damit antun. Dabei weiß ich, es würde nichts bringen. So wie es mir damals auch nie etwas gebracht hat, wenn es mir jemand gesagt hat. Heute kann ich sagen, dass ich geschafft, was mir vor ein paar Jahren fast niemand zugetraut hätte. Ich selbst hätte es damals wohl auch nicht zugetraut.

Ich konnte mir ein Leben ohne die Essstörung nicht mehr vorstellen. Mir wurde mal gesagt, dass ich gesund werden kann, aber dass jedes Essen ein Kampf sein wird. Das ist es nicht. Essen ist für mich kein Kampf mehr. Ich esse sehr gerne. Ich liebe es zu essen, doch gleichzeitig spüre ich jetzt wieder, wenn mein Körper mir sagt, dass es reicht. Ich spüre wieder, wenn ich Hunger habe oder satt bin. Das konnte ich sehr lange nicht. Ich bin nicht immer vollkommen mit meinem Körper zufrieden, aber ich bin auf einem guten Weg.

Und so haben mein Sohn und mein Partner mich rausgeholt aus dieser Tiefe. Sie haben mich auf meinem Weg zurück ins Leben begleitet und dafür bin ich sehr dankbar.

Kleiner Verweis

Die Bilder wurden von picarts (Benedikt Krahl) gemacht. Vielen Dank dafür!