In den letzten Jahren zog das Thema Hochsensibilität immer größere Kreise. Dabei ranken sich viele Meinungen und Bewertungen um die Stärken und Schwächen einer ausgeprägten Feinsinnigkeit. Doch was genau ist Hochsensibilität und wie wirkt sie sich im Alltag von hochsensiblen Menschen aus?

Hochsensible Momentaufnahme

Lisa wollte sich endlich mal wieder mit ihren guten Freundinnen treffen. In letzter Zeit hatte ihr Berufsalltag und ihre Familie ziemlich viel Energie beansprucht. Deshalb freute sich Lisa umso mehr auf einen entspannten Abend bei Dinner und Wein, wo es sich mal nicht um Kennzahlen für den nächsten Geschäftsbericht oder Schulaufgaben ihrer Kinder drehte.

Auf dem Weg zu ihrer Freundin Clara drängten sich viele Menschen in die Straßenbahn. Unzählige Stimmen und Gerüche wirkten auf Lisa ein. Kinderschreien, Telefonate und lautes Lachen vermischten sich mit strengen Parfums und stickiger Luft. In Lisas Ohren machte sich wieder dieses betäubende Klingeln breit und sie spürte ein flaues Gefühl im Magen. Das Schwanken der Bahn verstärkte noch das Schwindelgefühl.

Aufnahme einer über eine Brücke fahrenden Straßenbahn.

An der Haustür von Clara bemerkte sie die ständig aufflammende Nackenverspannung nach solchen überreizten Situationen. Aber sie freute sich ihre Freundin wiederzusehen und versuchte die Situation abzuschütteln. Als die Tür aufging wurde die Verspannung aber schlagartig stärker. Clara begrüßte sie lächelnd, aber dahinter war eine deutliche Anspannung und Aggression zu spüren. Lisa fragte, ob alles in Ordnung sei. Clara nickte eifrig, aber ihre Mimik verriet etwas anderes.

Die anderen Freundinnen saßen bereits mit einem Weinglas in der Hand auf der schönen Terrasse. Sobald Lisa saß, redeten alle aufgeregt drauflos. Sie fühlte sich vom Stimmengewirr in ihren Stuhl gedrückt und konnte nicht folgen. Als hinter Lisa Musik eingeschaltet wurde, kehrte das Klingeln in ihre Ohren zurück.

Clara setzte sich neben sie und stimmte in das Gesprächsgewirr ein. Lisa konnte förmlich spüren, wie Claras unterdrückte Anspannung sich über sie ausbreitete. Ihre fahrigen Gesten und überlauten Worte schienen den ganzen Tisch zu ergreifen.

Aufnahme von vier Frauen mit einem Getränk in der Hand.

Als einzige Rettung sah Lisa den schnellen Rückzug. Sie schloss sich im Bad ein und versuchte, sich zu beruhigen. Dabei krochen die alten Selbstzweifel in ihr hoch. Wieder einmal konnte sie einen Abend nicht genießen, der eigentlich zur Entspannung von ihrem stressigen Alltag gedacht war. Was stimmte denn nicht mit ihr?

Was bedeutet Hochsensibilität?

Was Lisa erlebt und empfindet, würden viele Menschen mit einer Überforderung oder Überreizung beschreiben, vielleicht ausgelöst durch zuviel Arbeit oder Erschöpfung.

Womit wir schon beim Kern von typischen Symptomen der Hochsensibilität sind. Mit dem großen Unterschied, dass hochsensible Menschen diese Überreizung häufig im ganz normalen Alltag erleben – in Situationen, die für normalsensible Menschen keine Anstrengung darstellen oder sogar als entspannt und locker gelten.

Wie kommt es, dass manche Menschen alltägliche Situationen so heftig wahrnehmen?

Der Grund ist, dass sie eine deutlich erhöhte Sensitivität bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von Eindrücken aufweisen. Von den Sinneskanälen bis zum Gehirn werden mehr und auch subtilere Reize aufgenommen, die dann intensiver verarbeitet werden.

Du kannst dir das wie Filter vorstellen, die feiner auf Signale reagieren und zudem durchlässiger sind.

Diese Erkenntnisse stammen hauptsächlich von Forschungen aus dem englischen Sprachraum, wo dieses Phänomen als »sensory processing sensitivity« oder kurz »SPS« bezeichnet wird. Die Psychologin Elaine N. Aron hat nach ihren Feldforschungen zur SPS in den Neunziger Jahren ein umfassendes Buch veröffentlicht, in welchem sie dafür den Begriff Hochsensibilität geprägt hat.

Menschen, die diese Wesenszüge aufwiesen, hat sie als »highly sensitive person« (HSP) bezeichnet. Durch die enorme Popularität ihres Standardwerks haben sich die Begriffe Hochsensibilität, hochsensible Person und HSP in der Welt etabliert.

Forschungen zur Hochsensibilität gehen davon aus, dass etwa ein Fünftel der Bevölkerung hochsensible Merkmale aufweist. Die meisten stufen Hochsensibilität als veranlagten Wesenszug ein, wie etwa die Anlage zum Linkshänder, und grenzen sie damit deutlich von Definitionen als Störung oder gar Krankheit ab. Da Hochsensibilität erst seit wenigen Jahrzehnten untersucht wird, gilt sie als nicht ausreichend wissenschaftlich erforscht. Viele Erkenntnisse basieren auf Feldforschungen und Selbsterfahrungen.

Hochsensibilität erkennen

Aron entdeckte unterschiedliche Ausprägungen der Hochsensibilität, zum Beispiel welche Sinneskanäle wie stark betroffen sind. Manche hochsensible Menschen (HSP) erleben Geräusche sehr intensiv, andere eher Berührungen oder Gerüche. Nicht selten betrifft es auch zwei oder mehrere Sinne gleichzeitig.

In Abgrenzung zu normalsensiblen Wahrnehmungen herrscht hierbei eine ständige erhöhte Reizwahrnehmung und Reizverarbeitung, meist unabhängig vom Kontext. Ein Gefühl der Überreizung in sehr stressigen Situationen kennen viele Menschen. Doch HSP nehmen auch in ruhigen und entspannten Momenten diese Reize überdurchschnittlich intensiv wahr.

Beim hochsensiblen Hören werden etwa auch leise Geräusche sehr fein wahrgenommen. Klänge und Stimmen wirken regelrecht haptisch. Laute Geräusche, wie Sirenen oder Rufe werden teilweise als physischer Schmerz erlebt.

Wenn der Geruchssinn betroffen ist, werden zum Beispiel Gewürznoten sehr detailliert wahrgenommen. Selbst weit entfernte Düfte werden registriert. Besonders künstliche Gerüche wie Deodorants oder Duftkerzen können als äußerst störend erlebt werden.

Auch über weitere Sinneskanäle, wie den Geschmackssinn, Tastsinn oder Sehsinn können solche intensiven Eindrücke wirken und bis hin zu Überreizung und Erschöpfung führen.

Aufnahme eines Mannes mit den Händen vor dem Gesicht, der erschöpft wirkt.

Wenn du selbst einmal testen möchtest, ob du hochsensible Wesenszüge aufweist, dann bietet der Fragebogen von Zart Besaitet einen umfassenden Test an. Zusammen mit dem Testergebnis erhältst du auch eine aufschlussreiche Einschätzung. Mittlerweile haben sich auch manche Ärzte, Therapeuten und Coaches auf das Thema Hochsensibilität spezialisiert und können eine wertvolle Unterstützung bieten.

Hochsensibilität bei Kindern feststellen

Kinder können vielleicht nicht verbal ausdrücken, wenn sie über einen oder mehrere Sinneskanäle hochsensibel wahrnehmen. Deshalb ist es für Eltern wichtig, bewusst zu beobachten, wie ihr Kind auf bestimmte Eindrücke und Reize reagiert.

Was können typische Reaktionsmuster von hochsensiblen Kindern sein?

Wenn dein Kind oft über schlecht sitzende oder kratzende Kleidung klagt oder sich ständig an den Stellen juckt, wo Etiketten oder Stoffe auf der Haut anliegen, dann kann ein hochsensibler Tast- und Empfindungssinn der Grund sein. Auch eine starke Sensibilität gegenüber Berührungen oder Wettereinflüssen kann Ausdruck von Hochsensibilität sein.

Aufnahme eines sitzendenden Kindes, welches einen Teddybär in den Armen hält.

Hält es sich oft die Ohren zu oder läuft vor intensiveren Geräuschquellen davon, kann der auditive Sinn hochsensibel ausgeprägt sein. Lehnt das Kind viele Speisen ab, zum Beispiel gesalzene oder allgemein gewürzte Gerichte und reagiert schnell mit Übelkeit, dann könnte das am feinsinnigen Geschmacks- oder Geruchssinn liegen.

Aber auch allgemeinere Verhaltensweisen können auf eine hochsensible Veranlagung hinweisen, etwa wenn dein Kind häufig Rückzug sucht, viel schlafen möchte oder sehr empathisch mit anderen Kindern oder Stimmungen umgeht.

Aufnahme zweier Kinder sitzend auf einem Steg am Stand, den Kopf auf die Hand gestützt.

Bei allen Anzeichen solltest du immer das gesamte Bild betrachten: Taucht das Verhalten nur in einer kurzen Phase auf, weil gerade einige Stressfaktoren oder Probleme zusammenkommen, oder erkennst du einen roten Faden im Verhalten, der sich auch durch ganz normale und entspannte Situationen zieht?

Herausforderungen und Stärken der Hochsensibilität

Wie jede Veranlagung und jedes Wesensmerkmal vereint auch die Hochsensibilität einige problematische Aspekte und potenzielle Stärken in sich. Diese Bewertungen liegen im Auge des Betrachters und hängen auch davon ab, was du als positive oder negative Merkmale ansiehst. Welche typischen Eigenschaften können hochsensible Menschen entwickeln?

Durch die feinere Reizaufnahme und intensivere Verarbeitung im Gehirn wirken viele Eindrücke in hochsensiblen Menschen deutlich länger nach. Auch das Zusammenspiel von Reizen auf die verschiedenen Sinneskanäle kann mehrere Wesenszüge ausprägen. Dadurch kann ein sehr empathisches und tiefgründiges Verständnis für das Umfeld entstehen.

Hochsensible können sich meist sehr gut in andere Menschen einfühlen und sie im Kern verstehen. Auch nach innen gewendet erleben sie eine reiche Welt aus Gefühlen, Ideen und Inspirationen. Daraus resultiert nicht selten eine kreative und intuitive Stärke, die mit viel Hingabe und Detailverliebtheit betrieben wird. HSP gelten deshalb oft als sehr sorgfältig, gewissenhaft, zuverlässig und loyal. Diese Potenziale und Fähigkeiten werden meist als sehr wertvoll und erstrebenswert angesehen.

Aufnahme einer Hand mit einer schwebenden Glühbirne darüber.

Damit einher gehen aber auch einige Herausforderungen, denn bei soviel Feinsinnigkeit und Empathie kann auch schnell eine Überlastung und Erschöpfung entstehen. Hochsensible haben daher häufig mit Müdigkeit, Überreizung und Überlastung zu kämpfen, während Normalsensible noch lange weitermachen können. Durch die intensive Verarbeitung von Eindrücken verstricken sich HSP öfter in einem ausgedehnten Nachdenken über vergangene Situationen und hadern nicht selten heftig mit allen Entscheidungen.

Mit der tiefen Empathie gehen auch sehr ausgeprägte Bedürfnisse nach Harmonie und Gerechtigkeit einher. Das kann für hochsensible Menschen gerade in beruflichen Konkurrenzsituationen oder bei privaten Konflikten enorm belastend sein.

Ein guter Umgang mit Hochsensibilität

Auch wenn die hochsensiblen Herausforderungen sich im Alltag für HSP ziemlich problematisch anfühlen können, gibt es einige hilfreiche Schritte im Umgang damit. Wenn du bei dir selbst hochsensible Wesenszüge feststellst, kannst du diese Schritte angehen, um deinen Alltag leichter und unbeschwerter zu gestalten.

Für den ersten Schritt kannst du die aktuellen Forschungserkenntnisse nutzen, die du schon kennengelernt hast: Hochsensibilität ist keine Störung, die du beheben musst, sondern eine Veranlagung, die du akzeptieren darfst. Ihre Wesensmerkmale sind objektiv betrachtet weder gut noch schlecht. Es kommt darauf an, wie du mit ihnen umgehst und sie in deinen Alltag integrierst. Durch diese Akzeptanz kannst du die Schwierigkeiten annehmen und die schönen Seiten genießen, wie zum Beispiel intensive Gespräche oder tiefe sinnliche Wahrnehmungen wie Musik hören.

Durch die Annahme deiner Hochsensibilität baust du dir selbst einen Zugang zu deinen wunderbaren hochsensiblen Potenzialen. Um diese voll auszuschöpfen, kannst du einen achtsamen Umgang mit dir selbst und deinen Kräften aufbauen. Dafür horchst du während des Tages öfter in dich: Wie geht es mir gerade? Was brauche ich? Was möchte ich vielleicht ändern? Was kann ich jetzt für mich tun?

Aufnahme einer Frau mit geschlossenen Augen, welche eine Hand auf ihr Brust hält.

Wenn du darin ein wenig geübt bist, wirst du viel schneller spüren, wenn du müde oder überreizt bist. Dann kannst du im nächsten Schritt deine Handlungen und Entscheidungen anpassen. Vielleicht gönnst du dir mehr Pausen oder längere Ausruhphasen. Oder du sprichst direkt an, was dich momentan beschäftigt. Dadurch kannst du langsam aber sicher eine fundierte Selbstsorge aufbauen.

Ein hochsensibler Ausblick

Besonders für hochsensible Menschen führt eine ehrliche Selbstkenntnis gepaart mit einer guten Selbstsorge zu deutlich mehr Entspannung und Gelassenheit. So bleibt viel Energie, um dein Leben aktiv und selbstbestimmt zu gestalten. Damit kannst du deine hochsensiblen Fähigkeiten wie Einfühlungsvermögen, Intuition oder Kreativität immer weiter ausbauen, während du deine Sinne und dein Gehirn nicht überforderst und dir deine Auszeiten gönnst. Du wirst erstaunt sein, was dadurch für dich möglich wird.

Aufnahme vom Körper aus gesehen liegend in Richtung Füße mit Blick aufs Wasser.

Entscheidend ist, dass du kleine Schritte gehst und dabei sanft zu dir bist. Solltest du auf deinem Weg schwierige Hürden entdecken, kannst du dir jederzeit Unterstützung suchen. Das können gute Freunde, dein Partner oder deine Familie sein. Wenn du dir eine hilfreiche methodische Begleitung wünschst, dann nutze gern das HSP-Coaching, das speziell auf hochsensible Anliegen ausgerichtet ist. Damit kannst du deine persönlichen Herausforderungen angehen, um deine hochsensiblen Potenziale zu entfalten.

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